Angèle Kremer Marietti
Université de Picardie
Menschliches-Allzumenschliches: Nietzsches Positivismus
(Übersetzt von Oscar A. Haac, mit Gerhard Vasco, State University of New York, Stony Brook
Article publié dans NIETZSCHE-STUDIEN, 26, 1997, pp. 260-275)
Nietzsche würde allen abraten, der Anziehungskraft der
abstrakten Ideen als solche (er nennt sie auch abstracta) zu folgen,
selbst wenn die Avant-Garde der Moderne oft besonders stolz auf sie ist.
Bemerken wir, daß auch Auguste Comte "bedeutungslose Abstraktionen" wie
auch "unklare und mystische Begriffe"
ablehnt.[1] Parallel zur Ablehnung der
Abstraktionen als solcher, stützt sich Nietzsche, besonders in Menschliches-Allzumenschliches, auf den Geist der positiven
Wissenschaften seiner Zeit.[2] Nur
bestehen für ihn die Hauptvorteile, die eine Wissenschaft mit sich bringt,
nicht in ihren eigentlichen Resultaten, sondern in ihren Methoden: "Aber es ergibt einen Zuwachs an Energie, an Schlussvermögen, an
Zähigkeit der Ausdauer; man hat gelernt, einen Zweck zweckmässig zu
erreichen" (op.cit. I, Aph. 256).
Er kommt übrigens auch in Morgenröte auf das Thema der
Methoden wieder zurück:
"Es gibt keine alleinwissendmachende Methode der
Wissenschaft! Wir müssen versuchsweise mit den Dingen verfahren, bald
böse, bald gut gegen sie sein und Gerechtigkeit, Leidenschaft und
Kälte nacheinander für sie haben." (Aph. 432)
Ausserdem bezeugt er in
Morgenröte, im langen
Aphorismus 542 der von dem Niedergang eines Philosophen spricht, grosses
Verständnis für Comte's Philosophie, und sogar für Comte, den
Philosoph persönlich.
Sein Lesen des Buchs von John Stuart
Mill,
August Comte und der Positivismus, sollte Nietzsche schon eine
ausreichende (doch aber leider unvollständige) Kenntnis von Comte's
Positivismus gestattet haben. Man muss jedoch wissen, daß die deutsche
Übersetzung des
Cours de philosophie positive erst 1880 erschien;
aber Nietzsche kann Comte's Werke schon früher gekannt
haben.
Jedenfalls erklärt Nietzsche in
Menschliches-Allzumenschliches, dass von jetzt ab die Philosophie
unbedingt eine "geschichtliche" sein müsse (Aph. 2): "Demnach ist das
historische Philosophieren von jetzt ab ganz notwendig und damit die
Tugend der Bescheidung."
Diese geschichtliche
Philosophie hat aber doch einen transzendentalen Ausblick im kantischen Sinne,
weil sie die Bedingungen, wie es möglich ist zur Kenntnis kommen,
untersucht, und gleichzeiting im klassischen Sinne "transzendent" ist,
wenigstens in soweit sie versucht, über die nachsokratischen Philosophien
hinauszugehen. Ihre Besonderheit besteht darin, daß der ihr
eigentümliche Abbruch sich nicht im Abstand von der doxa (der allgemeinen
Meinung) vollzieht, wie in der philosophischen Tradition seit Plato, sondern im
Abstand vom traditionellen Philosophieren, das Nietzsche genau so schätzt
wie die doxa, weder mehr noch weniger. Denn die rationelle Wahrheit, die
notwendiger Weise in der wissenschaftlichen Wahrheit inbegriffen ist, bringt
eine ontologische Schwierigkeit in ihrer Beziehung zur Wirklichkeit mit sich,
wie auch zum vermeintlich ontischen Grund alles symbolischen
Denkens.
Die radikale Wahrheit, so wie Nietzsche sie auffasst
und so wie er sie in seiner Untersuchung behandelt, bleibt mit der rationellen
Wahrheit in einem Verhältnis, das Nietzsche hauptsächlich genealogisch
ansieht. Das bedeutet, daß Nietzsche jede "Wahrheit" einer kritischen
Untersuchung unterwirft, indem er sie einer anderen Wahrheit radikal
entgegensetzt.
Nietzsche's Untersuchung bedeutet für uns
eine originelle Betrachtung über die "Wahrheit", die die radikale Frage
stellt von der Bedeutung und dem Wert dessen, was wir "Wahrheit" nennen. Max
Scheler hat dies ganz richtig
verstanden.
[3] Und wenn Nietzsche,
gemäß seiner eigenen Erklärung, "die Schule des Verdachts"
gründet,
[4] so ist es gar nicht,
um das, was er öffentlich abgelehnt hat, heimlich wieder einzuführen,
d. h., die offizielle Wahrheit derer, die das rationelle Denken mit der
Zivilisation verbunden haben. Insbesondere, wenn für ihn die
traditionellen Kategorien [Begriffe] des "Endziels", der "Einheit" und des
"Seins" nicht mehr die Welt erklären, so bleibt uns, um dennoch den
Ursprung unserer Denkart wieder herzustellen, die Möglichkeit den Grund
unseres Glaubens an die genannten Kategorien zu untersuchen. Deshalb werden nun
radikale Fragen gestellt: Warum glauben wir allgemein? Und was sind unsere
besonderen Gründe, an diese Kategorien zu glauben? Das Besondere dieser
radikalen Einstellung ist, daß sie mit dem Verständnis unserer
Glaubensgründe, uns neue Einsicht gibt in das Prinzip der Moderne selbst,
und so unserem philosophisches Denken eine transzendentale Richtung gibt,
angefangen mit dem radikalen Zweifel an unserem Kenntnisvermögen, um es so
besser zu erläutern. Auf diese Weise hat Nietzsche schon den Weg zur
sogenannten symbolische Funktion eröffnet, in der wir unsere grundlegende
Funktion erkennen. Er hat auch den modernen Kognitivismus vorausgesehen.
Wahrheit, im Sinne der modernsten technischen Welt, d. h.
der eigentlichen Welt der Technick selbst, kann leider nicht mehr anders
definiert werden als im Sinne seiner Wirksamkeit in der Technik. So wie
Heidegger für unsere Zeitgenossen die Gefahr der Technik dargestellt hat,
so war Auguste Comte der erste, den Tatbestand unserer industriellen
Zivilisation anzuerkennen; für ihn hatte unsere Zivilisation wahrlich eine
neue Phase begründet, in der unsere wissenschaftliche Kultur einen ihrer
entscheidenden Endzwecke ar nicht mehr verheimlicht: den der industriellen
Tätigkeit. Im Erfolg der Technik sehen wir daß, in der Tat, Nutzen,
Erfolg und Produktivität, a posteriori Kriterien werden, die aber doch
die Wahrheit der Erkenntnisse bestimmen, und damit die Möglichkeiten,
sowohl unserer Freiheit, als auch unserer Weltentfremdung. Nietzsche bewertet
schon das Erscheinen der Maschine im Leben Europas, auch die Probleme, die sie
der Arbeit wie auch dem Arbeiter bereitet (Vgl. Der Wanderer und sein
Schatten. Aph. 286, 288). Deshalb schlägt er zwei Regeln für einen
neuen Lebensstil vor, die diesen offensichtlichen Veränderungen
entsprechen: 1. Sein Leben in klarer [beweisbarer] und nicht mehr in
unbestimmter Weise zu ordnen; 2. Eine Wertordnung zu schaffen für das was
sicher ist und was weniger sicher ist. Deshalb muss man das Beweisbare vom
Sicheren und vom Wahrscheinlichen unterscheiden, sogar in den Dingen des
täglichen Lebens:
Erster Grundsatz. Man soll das Leben auf das Sicherste,
Beweisbarste hin einrichten, nicht wie bisher auf das Entfernteste,
Unbestimmteste, Horizont-Wolkenhafteste hin.
Zweiter Grundsatz. Man soll sich die Reihenfolge des
Nächsten und Nahen, des Sicheren und weniger Sicheren feststellen,
bevor man sein Leben einrichtet und in eine entgültige Richtung bringt
(
Der Wanderer und sein Schatten, Aph.
311).
Was den privilegierten logischen und
metaphysischen Status anbetrifft, dem das rationelle Denken in seiner
ursprünglichen Gesetzlichkeit angehörte, muss man nun anerkennen, dass
neue Tatbestände aufkommen, die, wenn sie auch nicht alles substantiv
verändern, vieles doch in weitem Maße umstellen, da jetzt das
Rationelle der Technik sehr oft untergeordnet wird. Hier kann Nietzsche schon
sagen, dass ein neues Zeitalter begonnen hat, "die Zeit der Zyklopenbauten"
(
loc. cit. Aph. 275). Wenn dies für Nietzsche vor allem die
Sozialsphäre betrifft, so bleibt die ihm so wichtige Geistesfreiheit doch
seine erste Forderung. Der freigewordene Geist, der nun selbstmächtig ist,
muss die Fortschritte messen können, die ihn von alten Vorurteilen trennen,
wenn er so bergauf geht, um endlich klar in die Tiefe der Dinge zu blicken. Ohne
diese neue Perspektive, würde das rationelle Denken als solches
untergehen, da wir sonst mit Hegel zugestehen müssten, dass Wirklichkeit
nichts anderes sei als rationelles Denken. Denn wenn solch eine Ansicht
angenommen wird und rationelles Denken nun plötzlich entdeckt, daß es
sich selbst entgleisen kann, dann wäre natürlich die Menschheit, ganz
berechtigter Weise, von der Angst ergriffen, aber hauptsächlich vom Zweifel
an der rationellen Wahrheit selbst. So hat der Wahrheitsidealismus als
Idealismus, sich schließlich zu Grunde gerichtet.
Hier
bieten sich nun zwei neue Anhaltspunkte zu Nietzsches neuer philosophischer
Einstellung: die sind einerseits das konkrete Erkennen des sozialen, politischen
und ökonomischen Tatbestandes, und andererseits eine wahre Geistesfreiheit.
Denn in den modernsten Weltanschauungen, würde man zweifellos eines Tages
die Wahrheitskriterien autoritär anordnen wollen, wenn sie nun pragmatisch
geworden sind durch 1. eine wissenschaftliche Kontrolle, verbunden mit
wissenschaftlicher Praxis; 2. Beherrschung der Gesellschaft durch eine
theoretische Macht; 3. eine praktische (politische) Macht, geziehlt auf
praktische Wirksamkeit.
Man hat sogar sagen können,
dass man diese drei Bedingungen mit den drei "M" der kartesischen Hoffnung
versöhnen kann: Medizin, Moral und Mechanik, oder sogar mit dem
aristotelischen Versuch, den Menschen wieder in ein Verhältnis zu seinen
wissenschaftlichen Entdeckungen zu bringen, seien die nun angewandt oder nicht.
Der Gefahr gegenüber, die der Geistesfreiheit droht, besteht nun das neu
formulierte Prinzip der "Kontrolle", der "theoretischen Macht" und der
"praktischen Wirksamkeit." Der freie Geist muss deshalb die Umstände und
Zwecke der künftigen Lebensordnung der Menschheit untersuchen und in
Zweifel stellen.
Nicht nur der Argwohn der herrschenden Urteile
und Vorurteile, sondern auch ihre Prüfung und in Fragestellung bezeugen
Nietzsches eigene Denkart. Deshalb versucht Nietzsche alle Urteilsfehler und
"Irrschlüsse" ausfindig zu machen. Diese Irrschlüsse, falsche
Folgerungen und Fehlurteile zu entlarven, ist eine Lieblingsbeschäftigung
Nietzsches. Sie sind der Knotenpunkt der Argumente, die er der metaphysischen
Philosophie entgegensetzt. Ausserdem wird Nietzsche noch 1888 einen Text
über die Psychologie des Irrtums schreiben, um die verschiedensten
Verwirrungen anzuprangern: zwischen Ursache und Wirkung, zwischen dem, was wahr
geglaubt wird und dem, was wahr ist, zwischen der Logik und dem
Wirklichkeitsprinzip. Die Frage, die Nietzsche in 1878, wie auch in 1886 vor
allem beschäftigt, ist festzustellen, wie Wahrheit dem Irrtum entspringen
kann. Diese Frage führt zu einer unwiderlegbaren Schlussfolgerung, wenn man
nun, wie Nietzsche in
Menschliches-Allzu-menschliches, eine Reihe aus dem
Vergleich stammende Beobachtungen als ganz unanfechtbar annimmt (Aph. 23), zum
Beispiel diejenigen, die folgenden sieben Punkten entsprechen: 1. der Glaube an
Sprache als eine Wissenschaft (Aph. 11); 2. die Schlussfolgerung, die von der
Ursache zur Wirkung wie ein onirischer Vorgang führt (Aph. 13); 3. das
Phänomen der sympathischen Resonanz der Eindrücke (Aph. 4); 4.
Gefühle, die unrichtig "für tief gehalten" werden; 5. der weiter
bestehende Glaube an die Existenz "gleicher Dinge" (Aph. 18-19); 6. das
verallgemeinerte Benutzen von Irrschlüssen (Aph. 31); 7. der Irrtum
betreffend dem, was dem Leben seinen Wert gibt (Aph. 33).
Wahr
ist, dass Nietzsche nicht der erste war, falsche Urteile, Vorurteile und
Aberglauben anzugreifen; das war die Aufgabe der Aufklärung, die die Schule
französischer Schriftsteller und Philosophen des achzehnten Jahrhunderts
unternahm.
[5] Derselben Richtung
folgten in Deutschland diejenigen, die man Populärphilosophen nannte: Grave
(1742-1798), Nicolaï (1733-1811), Moses Mendelsohn (1729-1786) und Engel
(1741-1802). So bleibt die Aufklärungs-bewegung der Hintergrund radikaler
Untersuchungen, selbst wenn Nietzsche ihre "Gefährlichkeit" betont (
Der
Wanderer und sein Schatten, Aph. 221). Das Hauptproblem für Nietzsche
sind ja die rationellen Formulierungen, die es unmöglich machen, das Gebiet
des Gefühls und das der lebenden historischen Wirklichkeit einzubeziehen,
um so die Wurzel vieler abstrakten Gedankengänge zu entdecken. Das Suchen
nach einer radikalen Wahrheit beginnt mit Entmystifizieren und Desillusionieren,
Je tiefer man damit geht, desto leichter kann man Irrschlüsse in
Gedankenquellen entdecken. Solche radikalen Untersuchungen sollen die Wurzel
bereits bestehender "Wahrheiten" ausfindig machen. Es ist besonders wichtig,
hier die Fallen der Logik zu vermeiden. Andere Kategorien von Irrtümern
werden von Nietzsche angegriffen weil sie "Wahrheiten" geschaffen haben:
"Absolute Grösse" die es nicht gibt; ebensowenig den "absoluten Kreis", die
"grade Linie" oder den "Punkt." Denn mathematische Wahrheit stammt von solchem
falschen Glauben. Wenn Nietzsche zu solchen Betrachtungen kommt, geht es ihm
aber nicht immer um diese "Wahrheiten" aus dem Weg zu räumen, sondern um
ihren Ursprung zu erkennen. Darum verlangt er auch von den "Wissenschaftlern"
mehr Bescheidenheit.
Seine Kompromisse mit dem Radikalismus und
dem Perspectivismus bringen Nietzsches Untersuchung in das noch unsichere Gebiet
der nicht entwickelten phychologischer Theorien, die mit einer transzendentalen
Philosophie in Einklang gebracht werden müssen, d.h., mit einer Philosophie
die sich mit den Bedingungen der Wahrheits-möglichkeit überhaupt
beschäftigt. In diesem Sinne war
Die Geburt der Tragödie ein
wertvoller Beitrag, weil die Philosophie mit diesem Werk zurückgeführt
wurde zu dem, was Nietzsche mit Ausdrücken wie "die Mütter des Seins"
oder "die Urmutter" bezeichnete. Dieses bestimmte und bedeutende erste Buch hat
den Weg zum philosophischen Radikalismus eröffnet, auf dem Nietzsche
durchweg geblieben ist, trotz der verschiedenen Etappen seines Denkens.
Selbsterkenntnis kann die Aufgabe haben, Universalkenntnis zu werden. Auf alle
Fälle strebt Nietzsche nach einer universalen Perspektive der
Menschenkenntnis. So bezieht er sich in
Menschliches-Allzumenschliches immer auf die Möglichkeit einer Wissentschaft des Menschen, d.h., auf
geschichtliche Anthropologie, die alle Einzelpersonen der Geschichte wie in der
Moderne, in Betracht zieht. Diese Einstellung bevorzugt "historische"
Philosophie auf Kosten der "metaphysischen" Philosophie. In sich-selbst reisen
und ausserhalb des Ichs Reisen (das eine wie das andere), schaffen
gleichermaßen die Möglichkeit das Sein des Menschen in seiner
Wahrheit zu erreichen.
Nietzsche bemerkt dass die Vernunft
ontologische leer und radikal nihilistisch ist; wir wissen, daß er dies
mit schlagenden Ausdrücken bezeichnen, z. B.: "Gott ist tot" oder "Alle
Finalitäten sind abgeschafft". Aber den Nihilismus, der ihm vorgeworfen
wurde, hat er selbst abgelehnt. Er hat ihn weder erdacht, noch gewünscht.
Er beschreibt nur die Vernunft, so wie sie sich in unserer Zivilisation
entwickelt hat. Um aus diesen Erwägungen theoretische und praktische
Schlüsse zu ziehen, müssen wir ihrer bewusst werden. Aber ein solches
Bewusstwerden gehört zur Lebenshaltung "freier Geister". Nietzsches
Radikalismus ist die Frucht reifer Lebenskraft, angeregt von einer der
berühmten "ersten Wahrheiten", von denen die Philosophie des Westens
ausgegangen ist. Kein a priori Vorurteil berechtigt uns nun heutzutage noch von
"ersten Wahrheiten" zu sprechen. Die Wahrheit, die Nietzsche wiederentdecken
möchte, geht von dem Wunsch aus, die Wahrheit der "Wahrheit" zu erkennen.
So möchte Nietzsche alle Klammern öffnen, zwischen denen die
Widersprüche eingeschlossen sind, von denen wir leben ohne weiter daran zu
denken. Nietzsches radikale Philosophie eröffnet alle Perspektiven und
befreit sich auf diese Weise von der Tyrannie der Vernunft, wo sie auch besteht.
So kann Nietzsche die christliche Religion, wie sie am Ende der
Antike war, in den richtigen [geschichtlichen] Rahmen setzen. Zu dieser Zeit
brachte die christliche Religion eine Wiedergeburt mit sich. Sie wirkte wie ein
Balsam. Der Stoizismus war eine Philosophie, die wie viele andere, nicht mehr
verstanden wurde; ganz wie es Epiktet ging, als sein Denken die Stelle des
Stoizismus einnahm. Epikur stellt den Epikurismus dar, eine Philosophie die auch
zu ihrer Zeit nicht mehr verstanden wurde. In solch einem Zeitalter brachte nun
das Christentum, nach Nietzsches Meinung, Hoffnung und eine für die
Zivilisation wünschenswerte Antwort.
Aber der Glaube an
eine metaphysische Welt, ist für Nietzsche nur eine Folge schlechter
Erkenntnismethode. Dies ist ein Fall, wo aus Irrtum eine gewisse anerkannte
"Wahrheit" hervorgewachsen ist. Nietzsche borgt das Prinzip von Kants kritischer
Philosophie, die nur die Kategorie der Phänomene beachtet, während sie
die Kategorie der "Dinge an sich" ablehnt, wie auch "ewige Wahrheiten", und zwar
im Namen des menschlichen Verstandes, der sich ja beschränken muss auf das,
was [menschliche] Sinnlichkeit ihm zu erkennen gibt. Nietzsche bemerkt,
daß vom Gesichtspunkt des "Menschenkopfes" das, was der Mensch nicht
"kennen" kann, er sich mindestens "denken" kann: das was als "Metaphysik"
bezeichnet wurde. Hier bleibt Nietzsche Kantianer, da Kant ja das "Kennen" und
das "Denken" unterscheidet: "Kennen" betrifft die Wirklichkeit der objektiven
Welt durch bestimmende Urteilkraft; während "denken" die menschliche
Sujektivität betrifft, die ihre wertvolle Finalitäten sich aneignet,
mittels einer reflektierenden Urteilskraft. Man könnte dies Nietzsches
"Populärphilosophie" nennen, allerdings im Sinne von Kants Philosophie,
wenn Nietzsche sie auch kritisiert, und wenn auch Kant selbst die
Popularphilosophie seiner Zeit abgelehnt hat. Stellt sich Nietzsche nicht als
"Kultursoldat" dar? (
Gemischte Meinungen und Sprüche,
183)
Was die anerkannte "Wahrheit"
erlebt hat in ihrem Kampf gegen eine mögliche Verzweiflung, wird nun zum
Pessimismus (vgl.
Die Geburt der Tragödie); denn alles was
sie erreicht hat, kam unbewusst von den stärksten Trieben die den den
Menschenverstand eingenommen [erobert] haben, so dass seine allgemeinen
Schlüsse die verdächtigen Grenzen der Unlogik erreicht haben. Auf den
Spuren Kants hat Nietzsche Wahrheitsprobleme in Wahrhaftigkeitsprobleme
umgeformt, als er nun den unausprechlichen Dionysos in die westliche Kultur und
Zivilisation einführt, den (tellurischen) Erdgott, der, von dem Plan
für
Die Geburt der Tragödie bis zu dem für Jenseits von
Gut und Böse (vgl. Aph. 295), gleichwertig wurde mit Freilegung und
vollständiger Erneuerung der Perspektiven. In
Menschliches-Allzumenschliches und in der zeitgenössischen Welt,
spielt Nietzsche die Rolle des Freilegers neuer Perspektiven.
Für die geschichtliche Philosophie gibt es weder ewige
Tatsachen noch absolute (oder ewige) Wahrheiten. Nun wird für Nietzsche
solch eine geschichtliche Philosophie zur Notwendigkeit. Es handelt sich hier um
eine geschichtliche und anthropologische Notwendigkeit, die sich auf dem Bestand
von Dokumenten aufbaut; Dokumente, die im Laufe der menschlichen Entwicklung
entstanden und uns zugänglich geworden sind, und die wir nun miteinander
vergleichen können. Wie kann nun eine geschichtliche Philosophie, die
gleichzeitig Naturphilosophie ist, Sublimationsgedanken mit sich bringen, wenn
sie nicht das Gegenteil einer metaphysischen Pbilosophie ist, [nicht Metaphysik]
die die intellektuelle Anschauung Descartes' oder Platos Visionen von Essenzen
für wirkich hält. Im Rahmen der nichtmetaphysischen Philosophie,
hängen wir immer von der Beobachtung der "Tatbestände" ab, und
können nicht mehr an so etwas, wie eine ganz selbtlose Betrachtung glauben,
noch an so etwas, wie selbstloses Verhalten. Diese gelten nur noch als
Wesensbestimmungen, während die "Tatsachen" uns zeigen, daß
selbstlose Handelsweise und Betrachtung ihren Ursprung in ursprünglich
egoistischen Tendenzen haben, die sich entwickelt und sublimiert haben aus einem
roheren Grundelement. Auguste Comte stellt im
Cours de philosophie
positive fest, daß Altruismus von einem grundsätzlichen Egoismus
stammt, und daß das Gesellschaftsleben uns dazu zwingt, den grundlegenden
Egoismus zum Altruismus zu entwickeln. Natürlich schreibt Comte dem
Altruismus grosse Bedeutung zu, weil er ein anständiges moralisches und
politisches Leben entwickeln und fördern möchte; aber Altruismus (er
hat den Begriff geprägt) ist nicht der gundlegende erste Zug des Menschen.
Comte weiss das ganz genau, und macht es in seinem „Tableau
cérébral“ klar, [seiner Darstellung des menschlichen
Gehirns].
So wählt Nietzsche aus persönlicher
Uberzeugung eine These, im Gegensatz zu der seines Freundes Paul Rée
(1849-1901), und die dieser in seinem Werk,
Der Ursprung der moralischen
Empfindungen (1877), dargelegt hat. Rée behauptet jeder Mensch
vereine zwei Triebe in sich, den egoistischen und den unegoistischen. Hier
übernimmt er einfach Schopenhauers These: "Aus dem Sein folgt die Tat"
(
operari sequitur esse). Das ist eben was Schopenhauer in
Uber die
Grundlage der Moral (1841) beweist. Schopenhauer sucht die ersten Regungen
des Herzens zu entdecken. Sie sind: 1. Egoismus oder die Suche nach einem Guten.
2. Schlechtheit oder die Suche nach dem Übel für Andere. 3. Mitleid
oder der Wunsch, anderen zum Guten zu verhelfen. Deshalb wird Nietzsche in
seiner Vorrede
Zur Genealogie der Moral, Rées Stellung und
Rées genanntes Buch direkt angreifen, und ihm seine eigenen Thesen
entgegenstellen. Das heisst, die Thesen, die Nietzsche schon in
Menschliches-Allzumenschliches entwickelt hat, und zwar in den folgenden
Abschnitten: "Die doppelte Vorgeschichte von Gut und Böse" (Aph. 45); "Der
Wert und Ursprung der moralischen Askese", "Die Moral der Sitten", und "Ursprung
der Gerechtigkeit" (Aph. 92); und hauptsächlich, in
Der Wanderer und
sein Schatten (Aph. 39, 81): "Der Ursprung der Rechte" und "Die weltliche
Gerechtigkeit".
Aphorismus 45, in
Menschliches-Allzumenschliches, skizziert die zweifache Vorgeschichte von
Gut und Böse. Eine erste Vorgeschichte erscheint in der Seele der Rassen
und der herrschenden Kasten. Hier machen die "Guten" eine Kaste aus; die
"Schlechten" nur eine Masse. Die ersteren können Schlag für Schlag
wiedergeben, Gutes für Gutes; die zweiten sind nur ein Haufen von
Machtlosen, denen Solidaritätsgefühle ganz fehlen. Hier ist nun seine
Tafel von Gut und Böse:
gut
böse
nobel
gemein
Herr Sklave
Die zweite
Vorgeschichte stellt sich anders vor. Sie findet in der Seele der Machtlosen und
Unterdrückten statt. Von deren Gesichtspunkt bezeichnet "böse" alle
Lebende, ob Mensch oder Gott. Einer Tat, die von Güte ausgeht, wird nicht
getraut. So eine Mentalität verhindert die Verwirklichung einer wahren
Gemeinschaft. Sie ist das Kennzeichen des Verfalls von Individuen und
Gemeinschaften. Da gibt es weder Eigentum noch Gutes; der Mensch wird wirklich
dem Menschen ein Wolf, wie Hobbes es so sagt. Zum Schluss: Eine sogenannte Moral
gibt es nur im Gebiet der herrschenden Kasten. Einerseits erlassen die Herrscher
Gesetze von ihrem eigenen Gesichtspunkt aus; andererseits sehen die
Bedrückten die ganze Welt als brutal, grausam und treulos an; sie sind ohne
Schutz. Eine ähnliche Beschreibung finden wir im Aphorismus 260, in
Jenseitz von Gut und Böse.
Der Sublimationsbegriff,
den er bei Stendhal hat finden können, wird von Nietzsche als zur
geschichtlichen Philosophie gehörend dargestellt, und der metaphysischen
Philosophie entgegengesetzt, d.h., als zur "positiven" Philosophie gehörend
bewertet, selbst wenn Nietzsche den Ausdruck nicht direkt benutzt und ihn sogar
auf andere Denker wie Rée abschiebt. Es handelt sich hier, um eine
Naturphilosophie, weder mehr noch weniger, die vom Vergleich wirklicher
Gegebenheiten ausgeht, und nicht von der rein abstrakten Vernunft. Man kann hier
nur an die Anweisung denken, die besagt: "Vergleich ist nicht Verstand"
[Comparaison n'est pas raison]. Das widerlegt Nietzsche ganz klar im
Zusammenhang von
Menschliches-Allzumenschliches, wo Vergleich keine
negative Bedeutung mehr hat, sondern ganz positiv gewertet wird, da die Natur-
und Geschichtsphilosophie die verschiedenen Sitten und Zivilisationen
"vergleicht", und da, wie Nietzsche es ausdrückt, "das Zeitalter der
Vergleichung" beginnt (Aph. 23). Die Untersuchungen von Hermann Post hatten ihm
als Beispiele vergleichender Studien gedient, in den Bereichen von Natur und
Geschichte, auf den Gebieten des Rechts und der Religion. Post schrieb: Das
Naturgesetz des Rechts:
Einleitung in eine Philosophie des Rechts auf
Grundlage der modernen empirischen Wissenschaft (1867);
Untersuchungen
über den Zusammenhang der christlichen Glaubenslehre mit dem antiken
Religionswesen, nach der Methode vergleichender Religionswissenschaft (1869); schliesslich:
Der Ursprung des Rechts: Prolegomena zu einer
allgemeinen vergleichenden Rechtswissenschaft (1876). Wir zitieren nur drei
Titel dieser Epoche unter vielen anderen.
Was schon in der
Geburt der Tragödie angedeutet war, und laufend im Jahre 1886 sich
wiederfindet, besonders in der Selbstkritik, die vor diesem ersten Buch
geschrieben wurde, ist auch in
Menschliches-Allzumenschliches vorhanden:
ich meine Kants Grundstellung, daß ein Widerspruch besteht zwischen dem
"Phänomen" und dem "Ding an sich". Das erscheint deutlich im Aphorismus 16.
Schon im
Philosophenbuch hatte Nietzsche das "Ding an sich" untersucht,
um es so weit wie möglich zu erklären. Da schrieb er:
"Wir können vom Ding an sich nichts aussagen, weil wir den
Standpunkt des Erkennenden, d. h. des Messenden uns unter den Füssen
weggezogen haben. Eine Qualität existiert für
uns, d. h.
gemessen an uns. Ziehen wir das Maß weg, was ist dann noch Qualität!
"
[6]
Schon im
Philosophenbuch, aber noch ausdrücklicher in
Menschliches-Allzumenschliches, kann man, Nietzsche gemäss, nicht
logisch vom Phänomen zum Ding an sich gelangen. Verbunden mit der
Schwierigkeit, die unserem Erkennen, ausserhalb des Maßes unseres eigenen
Phänomens. in der Welt entgegensteht, ist alles ein "Ding an sich", d. h.
unerkennbar. So lesen wir:
"Sobald man das Ding an sich
erkennen will, so
ist es eben
diese Welt. - Erkennen ist nur möglich, als ein Wiederspiegeln und
Sichmessen an einem Maße
(Empfindung)
[7]."
Da
das "Ding an sich" nicht meßbar ist, d. h., unerkennbar, ganz ohne jedes
mit unserem Sein gemeines Maß und daher völlig undenkbar in dem Sinn,
daß wir uns davon keine Vorstellung machen können, so entgeht uns
schließich jede wahre Bedeutung. Das Ding an sich ist das Entgegengesetzte
vom Phänomen oder von der Erscheinung. Nietzsche wünscht, dass man
keine metaphysischen Begriffe entwickle, um alles, was die hauptsächlichen
Gebiete der Religion, Kunst und Moral betrifft, zu erklären. Das bedeutet,
daß Nietzsche absolut keine metaphysischen Kategorien haben will. Aber er
empfiehlt, daß man sich im menschlichen Leben, an die wirkliche Entstehung
dieser einzelnen Gebiete halte, die oft Vorwände für Phantasmen sind.
Die Gründe, die Nietzsche für seine Stellung angibt, sind die
folgenden: 1. Diese Gebiete stammen in keiner Weise aus der "Welt an sich." 2.
Im Gegensatz zur allgemeinen Meinung, gehören sie ganz zu unserer
phänomenalen Welt. Nochmal gesagt: Sie sind "menschlich", "ganz menschlich"
und "allzumenschlich" um sich irgend einem "Ding an sich" anzugleichen.
Immer darauf bedacht, falsche Gedankengänge zu verfolgen,
widmet Nietzsche einige Texte der Traumdeutung, schon vor der, die uns Freud
bringt. Nietzsches Deutung ist, wenn auch nicht Freuds Deutung sehr nahe, ihr
aber doch in mancher Hinsicht ähnlich. In der Tat bezieht sich Nietzsche
nicht auf das Unbewusste, sondern auf den
Geist, und wenn er dem
onirischen Denken eine Erklärung zukommen lässt, so bezieht er sich
auf die archaische Vergangenheit der ganzen Menschheit, und nicht wie in
Morgenröte[8] ganz auf die
individuelle Erfahrung. Aber er hat doch schon mit Freud einiges gemein,
hauptsächlich wenn er den Traum aus der Vergangenheit erklärt, und
wenn er dem Traum seine eigene Denkweise zuschreibt. Für Nietzsche erlaubt
uns der Traum die Urgeschichte der Menschheit und die primitive Zivilisation zu
verstehen. Denn im Traum sind unsere Gedankengänge falsch, nicht weil sie
"unbewusst", sondern weil sie "primitiv" sind. Der Traum offenbart uns die
Denkprozesse unserer primitiven Vorväter. Nietzsche zeigt also schon an,
was das Besondere der Psychoanalyse ist: eine Erklärung nach dem Ereignis
und eine besondere Art des onirischen Denkprozesses. Die Entwicklung beider
Begriffe können wir dann bei Freud wieder finden. Wenn Nietzsche in
Aphorismus 13 des ersten Kapitels in
Menschliches-Allzumenschliches, vom
Traum spricht, ebenso wie Aphorismus 194 im
Wanderer und sein Schatten,
so können wir seine Ideen denen von Freuds annähern, wie zum Beispiel
im letzteren Aphorismus, der von Träumen sagt, sie bringen uns "symbolische
Szenen- und Bilderketten an Stelle einer erzählenden
Dichtersprache."
Dies ist vom Gesichtspunkt der Psychoanalyse
ganz bemerkenswert, wenn man daran denkt, daß uns Freud in der
Traumdeutung vom Jahre 1900, ausser einer onirischen Deutung die wirklich
Nietzsche ganz fremd ist, uns auch eine andere Theorie bietet, für die
Nietzsche hier gerade die ersten Grundlagen legt. Das muss man unterstreichen
und behalten. Nietzsche kündigt damit eine neue wissenschaftliche Haltung
an.
Einerseits untersucht Nietzsche die Entwicklungsgänge
des Glaubens und der Gewissheit. Er schlägt vor, die Urteilskraft vom
Glauben aus zu studieren, und den Glauben von den angenehmen und unangenehmen
Empfindungen her. Er begeistert sich für Afrikan Spir (1837-1890) und hat
sein Buch,
Denken und Wirklichkeit, Versuch einer Erneuerung der kritischen
Philosophie (Leipzig, 1877, II: 177; erste Ausgabe 1873) in seiner
Privatbibliothek. Spirs Philosophie geht in der Richtung einer philosophischen
Disziplin, die als eine Wissenschaft erster Prinzipien angesehen werden kann:
Sie soll die Scheinbilder ausfindig machen, welche die wahre Natur der Dinge
verbergen. Die Methode einer solchen Philosophie, besteht hauptsächlich
darin, Tatsachen festzustellen. Ebenso setzt sich Nietzsche für eine
Philosophie ein, die sich der metaphysischen Philosophie widersetzt: eine
geschichtliche Philosophie und, ganz besonders, unter vielen Möglichkeiten,
die Möglichkeit einer "Entstehungsgeschichte des Denkens". Heute
würden wir sagen: sie geht aus vom Standpunkt der eigentlichen, so
genannten Kognition. Spir erkannte, wie wichtig das Identitätsprinzip war,
und machte es zum Hauptprinzip seiner Erkenntnistheorie. Wenn dieses Prinzip des
philosophishen Denkens an einen Organismus angewendet wird, so gestattet es
Nietzsche, eine Entwicklungstheorie auf Grund menschlicher Empfindungen zu
entwickeln.
Andererseits untersucht Nietzsche die Beziehungen
zwischen Vorstellung und Kenntnis. Er betont das Verhältnis unserer
Kenntnisse zu den Vorstellugen, ohne die keine unserer Wahrbeiten Wert für
uns hätte. Unsere Vorstellungen sind selber mit unseren Empfindungen
verknüpft. Zum Beispiel: um den Begriff der Zahl zu verstehen, müssen
wir zwei gleiche Einheiten finden können, aber Nietzsche bemerkt dazu, dass
diese Einheiten keine greifbare Wirklichkeit haben. In gleicher Weise nehmen
wir an, dass es in der dynamische Mechanik Unterschiede gibt, wie die zwischen
Motor und dem in Bewegung gesetzten Gegenstand. Diese Elemente selbst haben ihre
Quelle in unseren Empfindungen. Deshalb kommen wir endlich zu dem Schluss, dass
Kant Recht hatte als er sagte: Die Vernunft schreibt der Natur ihre Gesetze vor.
Jedes Mal wenn wir eine neue Stufe der Entwicklung unserer
Kenntnisse erreicht haben, müssten wir anhalten und noch einmal auf die
durchgegangene Strecke zurücksehen, nicht nur um sie besser zu kennen,
sondern "um das Ende der Bahn herumzubiegen"
(
Menschliches-Allzumenschliches, I, Aph. 20); um überholte Begriffe
bis zum Ende zu verfolgen, so daß sie wirklich ganz überholt
erscheinen, und nicht nur halbwegs, damit wir eine Art des geschichtlichen
Utilitarismus erreichen, wie Nietzsche ihn hier vorschlägt.
Nietzsches Positivismus findet im Kampf um das Dasein keine
zulängliche Erklärung, für den Kraftzuwachs eines Individuum oder
einer Rasse, wenn das so war. Dieser Begriff gehört in allgemein bekannter
Weise, zu Darwins Weltschau. Das revolutionäre Werk, das Darwin (1809-1882)
1859 veröffentlicht hat, heisst ja:
Uber die Entstehung der Arten.
Darwin gab an, daß der Kampf um das Leben in der Natur nur ein anderer
Ausdruck ist für "natürliche Auslese", die Originalidee Darwins. Nach
seiner Theorie, ist der einzelne Organismus gezwungen, sich dem Milieu
anzupassen. Es besteht aus den gesammten ihn beeinflussenden Gegebenheiten,
einschliesslich der lebenden Umwelt, die entweder als Beute oder als Räuber
anzusehen ist. Neben einer gewissen Anzahl einzelner günstiger Variationen,
muss der Organismus auch mit einer gewissen Reihe schädlicher Variationen
zählen. All das ist der "Kampf um das Dasein." Natürliche Auslese
bedeutet Erhaltung günstiger Variationen und Beseitigung der
schädlichen Variationen. Erwähnen wir, dass Schopenhauer schon im
Kapitel 46, in Ergänzungen zur
Welt als Wille und Vorstellung,
ausdrücklich vom Begriff des "Kampfes um das Dasein" sprach. Er schrieb:
"Daher geht das individuelle Leben in unaufhörlichem Kampf um die Existenz
selbst hin."
Nun glaubt Nietzsche, daß andere Faktoren als
der "Kampf um das Desein" die Entwicklung des Einzelnen und der Gruppe
beeinflussen können:
"Vielmehr muss sich
zweierlei zusammenfinden:
einmal die
Mehrung der stabilen Kraft durch Bindung der Geister in Glauben und
Gemeingefühl;
sodann die
Möglichkeit, zu höheren Zielen
zu gelangen, dadurch dass entartende Naturen und, infolge derselben,
teilweise Schwächungen und Verwundungen der stabilen Kraft vorkommen;
gerade die schwächere Natur, als die zartere und feinere, macht alles
Fortschreiten überhaupt
möglich".
[9]
Im
Gegensatz zu Darwins Hypothese, besagt Nietzsches These, dass es die
schwächste Natur ist, die alle Fortschritte ermöglicht, eben weil sie
so zart und unabhängig ist.
Nietzsches Positivismus besteht
darin, daß er den Nihilismus anerkennt, zu dem unsere Zivilisation
geführt hat; diese hat an die Kategorien unserer Vernunft geglaubt, mit
denen wir die Werte der Welt schätzten, obwohl diese Werte tatsächlich
nur in eine ganz erdachte Welt passen. Deshalb muss man sich manchmal frei
über die Menschen zu erheben wissen, über ihre Sitten und ihre
Gesetze, und über die gewohnte Bewertung der Dinge. So drückte
Nietzsche sich in der ersten der zwei Vorreden von 1886 aus, die er für
eine neue Lesung von
Menschliches-Allzumenschliches schrieb. Was man
manchmal den "Mut seiner Uberzeugung" genannt hat, nimmt nun plötzlich eine
ganz neue Wendung an; er könnte ein neuer Mut werden, seine eigenen
Überzeugungen anzugreifen. Klar ist dass der Warheitswunsch von der Angst
stammt, sich zu verlaufen, und dass alle jene der Nihilismus lockt, die den
Geschmack für falsche Wahrheit verloren haben. Für sie ist die [alte,
falsche] "Wahrheit" keine Wahrheit mehr; sie wird vielleicht zum Gegenteil von
[wahren] Grundwahrheiten. Der "Weg zur Wahrheit" ist mit Hindernissen und
Gegensätzen gepflastert. Auf dem Wege vom Pessimismus zum "radikalen
Nihilismus", erscheint der Begriff des Absurden, mit seinen Verurteilungen und
seinen Verneinungen. Wenn Nietzsche alle moralische oder scheinmoralische Werte
"naturalistisch" nennt, so ist es weil der Radikalismus am Ende die Moral
naturalisiert, und eine Theorie von Beherrschungssystemen aufbaut, die er
überall an die Zivilisation angewandt sieht, schliesslich eine
Moraltheorie, welche den Zeichen und der Sprache menschlicher Leidenschaften
entspricht.
Was bedeutet nun endlich der Nihilismus, zu dem
Nietzsches Positivismus führt? Er ist nichts anderes als der objektive
Ausdruck des Enttäuschten, nach seiner festen Sicherheit im kartesischen
Optimismus. Descartes' Unvorsichtigheit ist Nietzsche nicht entgangen. Erinnern
wir uns, daß Descartes, zweifellos um sich gegen die Angriffe der
Theologen zu wehren, im Bereich der Vernunft bestetigen wollte, was die Religion
im Glaubensbereich verkündigte: das Ende der sechsten
Metaphysischen
Betrachtung wagte eine allgemeine Parallele festzustellen, zwischen der
endlichen Erlösung der Seele, wie die christliche Religion sie bot, und der
wissenschaftlichen Wahrheit der Kartesischem Philosophie. Für Nietzsche ist
es selbsverständlich, daß alles scheinbar unmittelbares oder ersteres
Wissen, immer andere inbegriffene Kenntnisse voraussetzt, welche viel
Mißtrauen erwecken, so wie die "Schule des Zweifels" es besagt. Deshalb
bringt Nietzsche den Begriff der verbotenen Wahrheit auf, das heißt:
[den Begriff] "einer solchen, die gerade die eudämonistische
Lüge
verhüllt und
maskiert. Gegensatz: die
verbotene
Lüge, dort eintretend, wo die erlaubte Wahrheit ihr Bereich
hat".
[10]
Bachelard
hat ganz richtig in
Morgenröte den Gedanken des Labyrinths betont.
Dieser hat ihn [stark] beeindruckt: "Wenn wir die Struktur unserer Seele
bezeichnen wollen (...), so müssen wir sie uns im Bilde des Labyrinths
vorstellen."
[11] Die Idee dieser
anderen Wahrheit, die uns der Nihilismus zwingt, vor der systematisch erdachten
Welt zu entwickeln, entblösst die Kehrseite der Welt und die Falschheit von
allem. Damit ist zur Prüfung der radikalen Wahrheit eine Erkenntnis der
Kenntnis geboten. Die Idee der radikalen Wahrheit wird zur berechtigsten
Sehnsucht der Moderne, und ausserdem, da sie uns die Überzeugung nimmt,
daß wir "die Wahrheit besitzen", führt sie uns auf den Weg einer
"Nachmoderne" [Postmoderne]. Sie ist das Unendliche, worauf das Labyrinth
hinweist. Der hellsehende Skeptizismus gibt es niemals auf, die "Wahrheiten" der
Welt in Frage zu stellen, obwohl wir sie verwirklicht und geprüft haben.
Eben weil die "Wahrheit" eine "Deutung" ist, so ist sie auch "eine Art von
Irrtum". So wird "Wahrheit" zur nutzlosen Erfindung, ganz wie "Geist",
"Gedanke", "Gewissen", "Willen".
Glaubensbedürfnis und
Wissensbedürfnis kommen oft dazu, einander zu überschneiden und sogar
sich zu vermischen. So versteht man dass Kant sich entschloss, "Glauben" und
"Wissen" zu unterscheiden. Wenn es wahr ist, daß der Mensch, wenn er
einmal die Kultur, in der er aufwuchs, sich angeeignet hat und die ganze Welt
bewegen kann, dann muss eine Anthropologie, besser gesagt, eine
Kulturwissenschaft, teilnehmen am Grunde des Wissens selbst. Wenn
Geschichtsbewusstsein überkommen ist und transhistorisch wird, so ist es
weil die radikale Wahrheitsidee allen Methoden und allen Behauptungen bis in
ihre letzten Folgerungen folgt, und ihre Glaubwürdigkeit prüft. So ist
dem kritischen Denken ein neuer Weg eröffnet, der überhaupt
Auslegung ist.
[1] Vgl. meine Einführung, "Comte zwischen dem Zeichen und der Geschichte," in: L'anthropologie d'Auguste Comte, Paris: Atelier Reproduction des
thèses, Honoré Champion, 1980, S. vii.
[2] Eine Anzahl Aphorismen von 1876-77, erschienen nicht in der ersten Ausgabe,
sondern erst 1893 [mit Datum 1894] in Menschliches-Allzumenschliches, Ein
Buch für freie Geister, in zwei Bänden, und zwar im zweiten Band,
der in zwei Abteilungen geteilt ist: Erste Abteilung: Vermischte Meinungen
und Sprüche; Zweite Abteilung: Der Wanderer und sein Schatten.
Nietzsche hatte dem Werk in 1878-80 eine erste Form gegeben und die
Bände separat drucken lassen. Die gemeinsame Vorrede wurde erst September
1886 in Sils Maria geschrieben, zur Zeit der Gesammtausgabe, die zweite Ausgabe
von Menschliches-Allzumensch-liches. Die dritte und vierte folgten in 1893
[1894] und 1896, mit Datum 1897.
[3] Vgl. "Mensch und Geschichte," Die neue Rundschau, Nov. 1926.
[4] Vgl. Menschliches-Allzumenschliches I, Vorrede, 1.
[5] Deswegen war die Erstausgabe von Menschliches-Allzumenschliches in 1878
Voltaire gewidmet.
[6] Vgl. Das Philosophenbuch, Aph. 101, Zweisprachlige Sammlung, Paris:
Aubier-Flammarion, 1978, S. 108.
[7] Vgl. Das Philosophenbuch, Aph. 114, op. cit. S. 114.
[8] Vgl. Morgenröte, Aph. 119, Erleben und erdichten.
[9] Vgl. Menschliches-Allzumenschliches, I, Aph. 224.
[10] Vgl. Das Philosophenbuch, Aph. 177, op. cit., S.
202-204.
[11] Vgl. Gaston Bachelard, La poétique de la rêverie, Paris: Presses
Universitaires de France, 1961.